Machen wir uns nichts vor: Als die langfristige Projektion der Kirchenmitglieder in Deutschland veröffentlicht wurde waren es schon ernüchternde Zahlen. Die Schock-Reaktionen ließen auch nicht lange auf sich warten, auch die Tagesschau berichtete darüber als die Einschaltquoten für diese Nachricht mit 9,8 Millionen fast so hoch lagen wie die prognostizierten Mitgliedszahlen für die Evangelische Kirche in Deutschland im Jahr 2060 (10,5 Mio.). Als “Mitgliederschwund”, “Mitgliederverlust” wird diese Entwicklung dort bezeichnet. Und in Zeiten von sozialen Medien, bei denen jeder Influencer unter 1 Million Followern unbedeutend ist und in einer Gesellschaft in der sowieso Größe und Wachstum alles wichtige zu sein scheinen ist es nicht verwunderlich, dass man erst einmal schockiert ist von diesen Zahlen.
Gleichzeitig könnte man auch positiv überrascht sein, bei der Schwarzmalerei der letzten Jahre. Wenn auf Twitter von der #Apokalypse2060 die Rede ist, gibt es auch Reaktionen genau in diese positive Richtung.
Doch jetzt muss es um etwas anderes gehen: Was tun wir? Jede Prognose, Projektion, Vision lebt doch davon, folgen für die Gegenwart zu haben. Denn ich frage mich schon: Wenn demographische Faktoren “nur” -24% des Mitgliederrückgangs erklären, weitere -28% aber kirchenspezifische Faktoren ausmachen (wie Tauf-, Austrittsverhalten), was wird dann aus diesen vielen Millionen Menschen, die von der Kirche nicht mehr erreicht werden? Und was wird dann aus meiner Kirche, wer ist dann noch “übrig”?
Kirchen mit weniger Mitgliedern werden radikaler
Ich gebe Erik Flügge recht, der bei seinen fünf Gründen gegen den Kirchenaustritt davon schreibt, dass für ihn gegen einen Austritt spräche, dass Kirchen mit weniger Mitgliedern radikaler werden: Er denkt, “dass die Kirchen durch meinen Austritt ihren Einfluss in der Gesellschaft nicht verlieren würden, aber einen internen Kritiker. Solange Leute wie ich in der Kirche Mitglied sind, muss die Kirche auch Rücksicht auf Leute wie mich nehmen. Sie versucht uns zu binden und zu halten und das trägt mit dazu bei, dass allzu radikale Positionen sich nicht durchsetzen.” Der paradoxe Teufelskreis dabei ist doch: Je mehr Menschen aus den Kirchen austreten, desto mehr Menschen werden orientierungslos, instabil und suchen Halt in den Extremen was zu mehr Hass und Gewalt führt wogegen das immer mehr schwindende Korrektiv der Kirchen mehr und mehr an Einfluss verliert. Dabei werden die Kirchen vor allem auch im digitalen Raum notwendig: Im Internet findet Hass Echokammern und vermeintlich soziale Bestätigung, was eine schnelle, digitale Radikalisierung befördern kann, schreibt Michael Blume. Sozialen Netzwerke helfen bei der Verbreitung von Bildern und Texten, und in anonymen Netzen wie 8chan findet offenbar jene Radikalisierung statt, die abseits der Bildschirme für immer mehr Gewalt sorgt. Und dieses Phänomen ist nicht nur in Bezug auf religiöse Radikalisierung oder Terroranschläge ein Problem sondern fängt viel früher schon beim Umgang miteinander an. “Hass und Terror machen vor keiner Gruppe Halt und bedrohen am Ende uns alle.” Es wird höchste Zeit, dem Extremismus gerade auch im Internet unmissverständlich und deutlich entgegenzutreten!
#DigitaleKirche muss sichtbar werden, solange sie noch kann
Wenn wir im Netz agieren, sind wir Teil einer Dynamik, über deren Effekte und Folgen wir in den ersten Jahren im Netz erst nach und nach einen Überblick verschaffen mussten: Heute wird leider klar, dass der Ist-Zustand von Social Media ziemlich düster aussieht. Das Fazit bei einem guten Artikel über einen Shitstorm im April bringt es wohl auf den Punkt: “So bleibt am Ende derzeit nur an die Verantwortung des Einzelnen zu appellieren. Der nicht mehr ganz neue Ratschlag, eine Minute zu warten und zu denken, bevor man tweetet oder teilt, ist nach wie vor aktuell. Leider ist das häufig nicht mehr als ein frommer Wunsch. Es scheint, als hätten wir noch eine recht weite Wegstrecke vor uns, bevor die sozialen Medien diese Bezeichnung auch verdienen.” Den Lösungsvorschlag, den Sascha Lobo in einem Artikel zum Attentat von Christchurch formulierte um rassistischen Verschwörungsmythen im Netz zu begegnen, liest sich wie ein Aufruf für mehr Kirche im Netz: Man könne darauf achten, ob Menschen “abgleiten in solche extremistischen Sphären. Und sie, falls dieser Verdacht besteht oder sich bestätigt, konfrontieren. Und sei es nur, um ihnen zu zeigen: Wir sind da, und wir sind aufmerksam.” Sind wir, also die Kirchen, das denn auch? Sind wir wirklich da und aufmerksam? Gerade dort, wo wir gebraucht werden, weil noch nicht einmal Regierungen mit Regulierungen hinterherkommen, soweit alles wieder “unter Kontrolle” (was auch immer man darunter versteht) zu bringen… Was uns zum nächsten Aspekt dieses Themas bringt: Wer entscheidet, was erlaubt ist?
Was darf online gesagt werden, oder: Welches Menschenbild bestimmt unseren Umgang miteinander?
“Das darf man ja wohl noch sagen!” — Wir meinen, dass Werte wie Toleranz unsere Gesellschaft ausmachen und immer mehr Menschen übersehen dabei, wie intolerant sie gegenüber anderen, häufig Minderheiten, sind. Rassismus wird als Meinungsfreiheit getarnt, der Ton im Netz wird immer rauher und: Keiner sagt was. Wer soll entscheiden, was gesagt werden darf? Bisher ist dieser Posten vakant, da er nicht durch historisches Anrecht besetzt werden konnte, weil es ihn früher schlicht noch nicht gab. Jetzt fordert sogar Mark Zuckerberg, Gründer und Chef von Facebook, dass jemand gefunden werden soll, der diesen Job übernimmt: “Aus der Politik bekomme ich häufig zu hören, dass wir zu viel Macht darüber haben, was gesagt werden darf und was nicht”, schreibt Zuckerberg. “Und offen gesagt, stimme ich ihnen zu.” Er schlägt vor, dass unabhängige Gremien festlegen sollen, wo die Grenze zwischen Meinungsfreiheit, Hassrede und terroristischer Propaganda verläuft. Welche Rolle spielen hierbei christliche Wertvorstellungen? Welche Rolle das jüdisch-christliche Menschenbild? Ähnlich gelagert ist der Fall ja auch bei manch einem meiner Artikel zum Thema Maschinenethik oder Künstliche Intelligenz, wenn es beispielsweise darum geht, welchen Menschen ein autonomes Fahrzeug im Dilemma überfahren soll: Nach welchen Prinzipien soll die Maschine entscheiden? Wer gibt die Richtung vor? Menschen suchen — Sie suchen nach Halt, Orientierung, Autorität, wollen die kompliziert gewordene Realität ein Stück einfacher machen indem Sie Regeln, Ansagen, Dogmatiken vertrauen können. Können wir trotz (oder auch wegen) der Perspektiven der Projektion 2060 diese Orientierung bieten?
Ich meine: Ja! Die Gesellschaft verändert sich und schafft neuen Raum für Kirche: Nicht nur als Mitgestalterin im digitalen Wandel sondern auch als Gegenüber für Individuen. Man muss Kirche nicht in den digitalen Raum bringen, sie ist schon da: Sehr viele Menschen haben es bereits erkannt und machen sich schon auf den Weg zur “digitalen Kirche” bzw. eher zur “Kirche digital” — Gehen wir mit!
Die vollständige Broschüre ist hier zu finden